Die wilden 1960er 1. Teil

Montag, 15.2. 19 Uhr Die wilden 1960er 1

Das Spukschloß im Spessart (Kurt Hoffmann, BRD 1960) – Filmplakat

Das Spukschloß im Spessart BRD 1960 / Regie: Kurt Hoffmann / Drehbuch: Günter Neumann, Heinz Pauck / Kamera: Günther Anders, Hans Staudinger / Schnitt: Hilwa von Boro /Musik: Friedrich Hollaender, Olaf Bienert, Alfred Strasser / Darsteller/innen: Liselotte Pulver, Heinz Baumann, Georg Thomalla, Hubert von Meyerinck, Hans Clarin, Curt Bois / Fassung: 35 mm, Eastmancolor / Länge: 101 Min.

Kurt Hoffmann gehörte der Definition nach noch zu den Regisseuren von “Papas Kino”. Seine Filme, wie das vom Verleih als Grusical beworbene Filmlustspiel mit Starbesetzung, wurden von den Vertretern des Neuen Deutschen Films als antiquiert abgetan. Dabei bietet der Film neben guter Unterhaltung auch kritische Anmerkungen zum Zeitgeschehen. Eine Gruppe von Gespenstern wird nach Jahrhunderten des Vor-sich-Hinspukens aufgescheucht, weil im Wirtschaftswunder der jungen Bundesrepublik ihr Unterschlupf, das alte “Wirtshaus im Spessart”, dem Autobahnbau zum Opfer fällt. Die Gespenster gelangen im Lauf der Handlung, nach etlichen Gesangs- und Tanzeinlagen und vielen komischen Verwicklungen, bis nach Bonn. In der jungen Bundeshauptstadt zeigt sich in einem Gerichtssaal, wie nah noch die jüngste Vergangenheit ist, als im Tumult der Gerichtsverhandlung der Bundesadler von der Wand fällt und ein noch darunter vorhandenes Hakenkreuz zum Vorschein kommt. Derartige kritische Ausblicke auf die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft sind so geschickt in die sehr unterhaltsame Spielhandlung eingebaut, dass sie auch von Zuschauern, die nur auf Unterhaltung aus sind, nicht übersehen werden können. “Papas Kino”, ja, aber auf hohem Niveau und auf der Höhe der Zeit.

Montag, 21.3. 20.30 Uhr Die wilden 1960er 2: Kurzfilmprogramm

Roland Klick: Ludwig
Roland Klick: Ludwig

Notizen aus dem Altmühltal BRD 1961 / Kurzdokumentarfilm / Regie, Drehbuch: Hans Rolf Strobel, Heinrich Tichawsky / Sprecher: Wolfgang Büttner / Fassung: 35 mm, s/w / Länge: 18 Min.

Ludwig BRD 1964 / Regie, Drehbuch, Kamera (mit Jochen Cerhak), Schnitt, Musik: Roland Klick / DarstellerInnen: Otto Sander, Elke van Schoor / Fassung: 35 mm, s/w / Länge: 16 Min.

Es muß ein Stück vom Hitler sein BRD 1963 / Kurzdokumentarfilm / Regie, Drehbuch: Walter Krüttner / Kamera: Fritz Schwennicke / Musik: Erich Ferstl / Fassung: 35 mm, s/w / Länge: 12 Min.

Machorka-Muff BRD 1963 / Regie: Jean-Marie Straub und Danièle Huillet / Drehbuch: Jean-Marie Straub und Danièle Huillet nach: Hauptstädtisches Journal von Heinrich Böll / Kamera: Wendelin Sachtler / Schnitt: P. C. Lemmer / Musik: François Louis, Johann Sebastian Bach / Produzent: Walter Krüttner / DarstellerInnen: Erich Kuby, Renate Lang / Fassung: 35 mm, s/w / Länge: 17 Min.

Wahlkampf – Made in Germany BRD 1966 / Kurzdokumentarfilm / Regie: Hansjürgen Hilgert / Drehbuch: Hans-Hermann Köper / Kamera: Bert Meister / Sprecher: Hans-Hermann Köper / Fassung: 35 mm, s/w / Länge: 12 Min.

Im Kurzfilm konnte sich junge Regisseure ausprobieren. Wenn der Film dann noch von der Filmbewertungsstelle ein Prädikat verliehen bekam, wurde er von den Kinobetreibern als Kulturfilm mit ins Programm genommen, wo er neben dem Hauptfilm, der Reklame und der Wochenschau gezeigt wurde – und lohnte sich so auch finanziell. Die nachrückenden Filmemacher wollten sich im existierenden System der Filmwirtschaft mit eigenen Stoffen etablieren, wie Roland Klick und vielleicht Hansjürgen Hilgert, oder sie wollten, inspiriert etwa von der Nouvelle Vague in Frankreich und deren Konzept des Film-Autors, ein ganz neues Kino schaffen. Dies war das Ziel der Unterzeichner des Oberhausener Manifests, zu denen Walter Krüttner, Fritz Schwennicke, Hans Rolf Strobel und Heinrich Tichawsky gehörten, und auch von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub, die, gewissermaßen als die Außenseiter unter den Außenseitern, ihr ganz eigenes Œuvre schufen. Notizen aus dem Altmülhltal zeigt “Bilder aus einer bayerischen Region, die das deutsche Wirtschaftswunder nicht erreicht hat” (Hans Helmut Prinzler). Der Film bekam von der Filmbewertungsstelle in Wiesbaden wegen seiner “beißenden, mitunter bösartigen Kritik” kein Prädikat verliehen und kam so nicht in die Kinos! Ludwig ist “eine kurze Etüde über einen einfachen Mann vom Lande. Ein Versuch über die Wirkung des atmosphärischen Beobachtens” (Norbert Grob). Roland Klick hat sich ausdrücklich von den Idealen der “Oberhausener” distanziert. In seinem Dokumentarfilm Es muß ein Stück vom Hitler sein zeigt Krüttner, der mit seiner Cineropa-Filmproduktion auch andere Kulturfilme (u.a. Machorka-Muff) produzierte, Hitler-Tourismus am Obersalzberg. Aus aller Welt kommen Touristen zur Jagd nach Devotionalien aus der Zeit des Nationalsozialismus – und die Bundesregierung wie auch der Freistaat Bayern verdienen auch noch gut daran. Die Filmbilder sind mit einem sarkastischen Kommentar unterlegt. Machorka-Muff nach Heinrich Bölls Erzählung ist eine Satire zum Thema Wiederbewaffnung, von Huillet/Straub mit Laiendarstellern in Bonn inszeniert. Hansjürgen Hilgerts Film Wahlkampf – Made in Germany begleitet die Kandidaten im Bundestagswahlkampf 1965. Die Wahlkampfstrategien der Parteien und ihrer Spitzenkandidaten werden analysiert und ironisch kommentiert.

Montag, 18.4. 20.30 Uhr Die wilden 1960er 3

Professor Mamlock (Konrad Wolf, DDR 1961)
Professor Mamlock (Konrad Wolf, DDR 1961)

Professor Mamlock DDR 1961 / Regie: Konrad Wolf / Drehbuch: Karl Georg Egel, Konrad Wolf nach dem Drama Professor Mamlock von Friedrich Wolf / Kamera: Werner Bergmann / Musik: Hans-Dieter Hosalla, Ludwig van Beethoven / DarstellerInnen: Wolfgang Heinz, Ursula Burg, Hilmar Thate, Lissy Tempelhof, Doris Abeßer / Fassung: 35 mm, s/w / Länge: 100 Min.

Eine großbürgerliche Silvesterfeier zum Jahreswechsel 1932/33 und eine Schlägerei zwischen Kommunisten und Nazis eröffnen in virtuoser Parallelmontage Konrad Wolfs Professor Mamlock und führen sogartig hinein in die Umbruchszeit von der Weimarer Republik zur nationalsozialistischen Diktatur, als man noch glauben konnte, die Machtübernahme Hitlers sei ein kurzer, vorübergehender Spuk. Im Mittelpunkt des Films, in dem Wolf ein bereits 1933 verfasstes Theaterstück seines Vaters Friedrich Wolf adaptiert, steht der renommierte Chefarzt Mamlock, der nicht wahrhaben will, welche Gefahr das neue Regime für ihn als assimilierten Juden bedeutet. Bereits zuvor hatte sich Wolf, der vielleicht wichtigste und bekannteste DDR-Regisseur der 1960er und 70er Jahre, mit den Themen der Judenverfolgung und des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Man mag seinen Film als Zeugnis einer DDR-Sicht der NS-Geschichte wie als Appell zum kommunistischen Kampf am Vorabend des Mauerbaus verstehen. Als außergewöhnlich lebendige historische Rekonstruktion, die auf immer wieder überraschende, fesselnde Weise alle Mittel filmischen Erzählens nutzt, wie auch als politisches Lehrstück ist er von bleibender Aktualität.

Montag, 16.5. 20.30 Uhr Die wilden 1960er 4

Das Brot der frühen Jahre (Herbert Vesely, BRD 1962)
Das Brot der frühen Jahre (Herbert Vesely, BRD 1962)

Das Brot der frühen Jahre BRD 1962 / Regie: Herbert Vesely / Drehbuch: Herbert Vesely, Leo Ti und Heinrich Böll (Dialoge) nach Das Brot der frühen Jahre von Heinrich Böll / Kamera: Wolf Wirth / Musik: Attila Zoller / DarstellerInnen: Christian Doermer, Karen Blanguernon, Vera Tschechowa / Fassung: 35 mm, s/w / Länge: 88 Min.

Walter Fendrich, ein aus der DDR nach West-Berlin übergesiedelter junger Mann, hat als Waschmaschinentechniker Karriere gemacht. Mit der Tochter seines Chefs liiert, entschließt er sich, buchstäblich von einem Moment zum nächsten aus seinem scheinbar vorbestimmten Leben auszubrechen. Noch vor dem Oberhausener Manifest gedreht und wenige Monate nach dessen Veröffentlichung 1962 in Cannes uraufgeführt, ist Veselys Film gewissermaßen der erste international präsentierte Neue Deutsche Film. Zeitgleich mit Alain Resnais und den Regisseuren der Nouvelle Vague hatte der in Wien geborene Vesely unabhängig von ihnen eine Filmsprache absolut vergleichbarer Modernität entwickelt. Er spürt dem zunächst rätselhaften Ausbruch Fendrichs aus verschiedenen Perspektiven nach, mit sich überlagernden Zeitebenen, einem zwischen Voice-Over-Erzählung und Filmdialog subtil changierenden Ton und einer sehr beweglichen Kamera – bis hin zu einer spektakulären mehrfachen Kreisfahrt um die sich umarmenden Protagonisten – und schafft damit ein suggestives filmisches Äquivalent zum Böll’schen Text. Die Verbindung eines realistischen Blicks auf das Berlin der frühen 1960er Jahre, einer existentialistisch getönten Kritik des bundesdeutschen Materialismus und einer innovativen Filmsprache stieß bei den damaligen Filmkritikern auf wenig Gegenliebe. Heute erscheint Das Brot der frühen Jahre als einer der interessantesten Filme seiner Zeit.

Montag, 20.6. 20.30 Uhr Die wilden 1960er 5

Karla (Herrmann Zschosche, DDR 1966/1990)
Karla (Herrmann Zschosche, DDR 1966/1990)

Karla DDR 1966/1990 / R: Herrmann Zschoche / B: Ulrich Plenzdorf / K: Günter Ost / M: Georg Katzer / D: Jutta Hoffmann, Jürgen Hentsch, Hans Hardt-Hardtloff / F: 35 mm, s/w / L: 123 Min.

„Unsere sozialistische Gesellschaft braucht (…) Menschen, die eigenständig denken. Nur sie können schöpferisch arbeiten. Karla versucht, solch ein Mensch zu sein.“ Einen Monat, nachdem die Schauspielerin Jutta Hoffmann die von ihr gespielte Titelheldin des DEFA-Films in einer Jugendzeitschrift so charakterisiert hatte, wurde der kurze, staatlich sanktionierte Aufbruch, den der DDR-Film seit Beginn der 1960er Jahre im Zeichen von Entstalinisierung, Bitterfelder Weg und Mauerbau erlebt hatte, im Dezember 1965 durch Parteibeschluss abrupt unterbunden. Die gerade abgedrehte Karla wurde zensiert und im DDR-Staatsarchiv unter Verschluss gehalten und konnte erst nach dem Mauerfall Anfang 1990 fertig geschnitten werden. Im Mittelpunkt des von Herrmann Zschoche nach einem Szenarium von Ulrich Plenzdorf gedrehten Films steht – wie gar nicht so selten im ost- und westdeutschen Film der 1960er Jahre – eine starke Frauengestalt: Hier ist es die mitreißende Junglehrerin Karla, die ihre Schüler/innen voller Enthusiasmus zum eigenständigen Denken erziehen will und dadurch unweigerlich mit der Schulaufsicht in Konflikt gerät. Fragen von Wahrheit und Kompromiss, Individualität und Anpassung werden in diesem Film mit einer erfrischenden Intensität und ohne Schwarzweißmalerei diskutiert, wie dies – beiderseits der Mauer – auch im Film der 1960er Jahre selten war.

Montag, 18.6. 20.30 Uhr Die wilden 1960er 6

Abschied von gestern (A. Kluge, 1966)
Abschied von gestern (A. Kluge, 1966)

Abschied von gestern BRD 1966 / R: Alexander Kluge / B: Alexander Kluge nach seinem Text Anita G. (aus: Lebensläufe) / K: Thomas Mauch, Edgar Reitz / D: Alexandra Kluge, Hans Korte, Fritz Bauer / Spr: Alexander Kluge / L: 88 Min.

Geflohen aus der DDR in den Westen, hat es Anita G. in ihrer neuen Heimat nicht leicht. Ihre Anstellung als Krankenschwester hält solange, bis sie ihre Kollegin beklaut und auf Bewährung verurteilt wird. Regeln befolgen gehört nicht zu Anitas Stärken, sie flieht, bekommt ihren nächsten Job und verliert ihn wieder, begegnet den verschiedensten Vertretern der bundesrepublikanischen Gesellschaft – unter anderem dem (realen) Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in einem beeindruckenden Kurzauftritt -, streunt weiter umher, bis sie steckbrieflich gesucht wird. Man könnte fast Mitleid bekommen mit Anita, aber Alexander Kluges Film entzieht sich jeglichem Mitgefühl. Das vier Jahre nach dem Oberhausener Manifest entstandene Porträt der Bundesrepublik in den 1960er Jahren, in dem Anita als Seismograf durch die Gesellschaft streift, wie Kluge selbst über seine Protagonistin zusammenfasste, ist mit inhaltlichen und formalästhetischen Unterbrechungen gespickt. Mithilfe von sprunghafter Erzählstrategie, Kommentaren, Zwischentiteln und dokumentarisch ausgearbeiteten Stadtansichten gelingt es Kluge, nicht nur das Regelgerüst von „Papas Kino“ zum Einsturz zu bringen, sondern Raum für intellektuellen und künstlerischen Anspruch zu schaffen, welcher dem Zuschauer Reflexion abverlangt, statt ihn in passivem Konsum schwelgen zu lassen. Für sein geglücktes Experiment mit dem programmatischen Titel wurde Kluge auf den internationalen Filmfestspielen in Venedig 1966 mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet.